Ubertino Carrara SJ: Columbus – Carmen epicum: Unterschied zwischen den Versionen

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Aktuelle Version vom 30. Oktober 2024, 12:21 Uhr

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Titelblatt des Columbus

Autor

Ubertino Carrara stammte aus einer alten Adelsfamilie und wurde 1642 in Sora, zwischen Rom und Neapel, geboren. In seiner Heimatstadt besuchte er das Jesuitenkolleg und trat im Alter von 14 Jahren als Novize in den Orden ein, wo er den üblichen Bildungsgang in Rhetorik, Philosophie und Theologie durchlief, bis er schließlich Profess ablegte und am Collegium Romanum Rhetorikprofessor wurde. Mit einer kurzen Unterbrechung blieb Carrara bis zu seinem Lebensende 1716 am Collegium Romanum und lehrte Rhetorik, kümmerte sich aber auch um den lateinischen Spracherwerb in den unteren Klassen. Er war zudem Mitglied in der Accademia dell’Arcadia. Sein dichterisches Werk vor dem Columbus umfasst die zeittypischen panegyrischen Formen mittlerer Länge, Epinikien, Epithalamien und dergleichen mehr für gekrönte Häupter im katholischen Teil Europas. Der Columbus, wenngleich auch panegyrisch Carraras langjährigen Förderer Kardinal Benedetto Pamfili zugeeignet, hebt sich kategorial von allem, was der Autor zuvor verfasst hatte, ab. Das zwölf Bücher lange Epos ist in etwa so lang wie die Aeneis und wurde vom Autor dazu intendiert, selbige zu ersetzen, im Schulunterricht wie darüber hinaus, so wie einst Vergil Ennius den Rang abgelaufen hatte. Als Epochenwerk sollte es die Vollendung der christlichen Weltherrschaft an die Stelle derjenigen Roms über die antike Oikumene setzen.

Werk

Das Prooemium legt beredtes Zeugnis davon ab. Wie schon in Petrarcas Africa erhebt der Autor sein Werk über das der antiken Vorläufer, indem er auf dem Wahrheitsanspruch des Geschilderten insistiert, dem die erfundenen Geschichten der alten nichts entgegenzusetzen hätten. Mehr noch: Selbstbewusst wird die topische Warnung, die Herakles seinen Säulen eingeschrieben habe und die über Zeitalter hinweg die Grenzen der erfassbaren und beherrschbaren Welt markiert haben, beiseitegeschoben, der größte der Ligurer, Kolumbus, mache sich auf unbekannten Sternen und Winden, die keinen Namen haben, zu folgen (astra ignota sequi nec habentes nomina ventos). Für Carrara als Dichter eines noch nie (sc. so ausführlich) besungenen Gegenstands fällt ebenfalls genug Ruhm ab, denn den repertor zu preisen, ist dem reperire ebenbürtig. In der Strukturierung des Narrativs scheint zu praktisch jedem Zeitpunkt imitatio und aemulatio der großen Modelle Vergil und Homer durch, zugleich bilden die einzelnen Versatzstücke aber auch eine ereignis- und ideengeschichtliche Summe dessen, was die Europäer westwärts geführt hat : Von einem durch Discordia heraufbeschworenen Seesturm mit göttlicher Intervention nach Prophezeiung von Gott an Aretia (Buch 1) über die Verzauberung der Gefährten des Kolumbus auf Gran Canaria (Buch 2), Heldenschau der spanischen Könige in einer Schildbeschreibung (Buch 3), Offenbarung des Reiseziels in der Ekphrase eines Schwertgurts (Buch 4). In Buch 5 erzählt Kolumbus auf See zum Zeitvertreib Geschichten, die gleichzeitig den Vorspann zu seinem eigenen Wirken bilden: Die Eroberung Granadas und den Auftrag König Ferdinands zur Routenfindung nach Indien. In Buch 6 meutern die Matrosen während einer Flaute. Kolumbus‘ Sohn Fernando geht nahe den Ruinen von Atlantis über Bord und wird für tot gehalten. Kurz darauf erfolgt die Landnahme mit Errichtung eines Kreuzes, die prompt die Erde beben ein paganes Heiligtum in Flammen aufgehen lässt. Analog zur arma-Hälfte der Aeneis wird der Neuankömmling aus der Alten Welt nun zum Zünglein an der Waage für einen Konflikt der Eingeborenen. Die große metaphysische Gegenspielerin des Helden ist ab Buch 7 Superstitio, die ihre letzte Domäne in Gefahr sieht. Daher bringt sie den kubanischen König Arviragus in Stellung, von dem sie ein Menschenopfer fordert. Seine Tochter Auria soll einem dreiköpfigen Seeungeheuer zum Fraß vorgeworfen werden, das aus den Überresten des paganen Pantheons verschmolzen wurde, aus Jupiter, Neptun und Pluto nämlich. Damit gibt Superstitio letztendlich aber Kolumbus eine erneute Gelegenheit, die Überlegenheit des Christentums unter Beweis zu stellen: Er rettet die Prinzessin und vernichtet das Monster. Spanier und Kubaner schließen daraufhin Freundschaft und laden sich gegenseitig. Es folgen in Buch 8 Ekphrasen der europäischen Flotte und anderer Technologien. Superstitio muss in Buch 9 zu entschiedeneren Maßnahmen greifen und ruft die personifizierten vitia auf, den Kontinent zu verheeren. Avarities schickt sie in die Silberminen Perus, Luxuria in die überreiche Vegetation Floridas, Gula in die Weidegründe Paraguays und Ira nach Mexiko, wo die Zerstörung Tenochtitlans durch Cortes bevorsteht. Dann erklären die benachbarten Kannibalen unter ihrem König Androphagus Arviragus den Krieg. In Buch 10 stellt sich heraus, dass Kolumbus‘ Sohn Fernando überhaupt nicht ertrunken ist, sondern von der Nereide Aletia in das Unterwasserreich geführt wird, wo er allerlei Wundersames, einschließlich einer Ekphrase des noch zu erfindenden Teleskops, erlebt. Zuletzt trägt ihn ein Delphin an den Strand der Kannibaleninsel, wo die Prinzessin Vasilinda ihn auffindet und mit einem Becher Kakao und heilsamem Wasser wiederbelebt, das seine Haut schwarz färbt. An seine Identität erinnert er sich nicht. Androphagus, der die Liebe der Kubanerprinzessin Auria erhofft, rüstet in Buch 11 den ahnungslosen Fernando zum Kampf gegen seinen eigenen Vater. Im letzten Buch kann Kolumbus seinen Verbündeten aufgrund seiner überlegenen astronomischen Kenntnisse die wahren Ursachen einer Sonnenfinsternis erklären und seine Erklärung experimentell belegen. Nun folgt Duell auf Duell, Aristie auf Aristie, bis es schließlich zum Showdown zwischen Kolumbus und seinem Sohn kommt. Im letzten Moment erkennt Fernandus ihn wieder und kann auch seinen Vater überzeugen – der Krieg endet. In der Sphragis wendet sich das Auge des Dichters wieder nach Rom, bis in die Höhle der Wölfin als Wiege der Welt(en)herrscherin. Er sieht sein Werk solange für vollendet, bis Gott seine neue Welt schafft, die dann eines neuen repertor bedürfe.

Carrara macht also ernst mit seiner Überbietungstopik. Er überschreibt die konzeptionell recht streng nachgeahmte Aeneis komplett mit einem Narrativ, in dem die christlichen Erben Roms eine neue, größere, Welt entdecken und in den heilsgeschichtlichen Körper der Christenheit absorbieren. Carrara gelingt es, auch mithilfe zahlreicher faszinierender und durchaus absichtlich komischer Episoden, die er aus der schillernden Welt des frühneuzeitlichen Romans und der volkssprachlichen Epik bezieht, ein tragfähiges Epos zu verfassen, bei dem man sich tatsächlich vorstellen könnte – und hier meint man Carraras jahrzehntelange Erfahrung darin zu ahnen, Heranwachsenden lateinische Dichtung und Rhetorik vermitteln zu müssen – dass die jungen Kollegiaten es nicht mit größerem Widerwillen gelesen hätten als das übermächtige antike Vorbild. Carrara profitierte, verglichen mit den meisten anderen heute angesprochenen Beispielen, sicherlich sehr davon, dass er von der Entdeckung Amerikas zu einem Zeitpunkt schrieb, da seine Eroberung längst vollzogen war. So kann er eine stabile Deutung der Aufnahme eines bislang nicht vorgesehenen Erdteils in den geschichtlichen Heilsplan formulieren. Er schildert die Entschleierung der vierten Prinzessin als eine Vermählung der alten mit der neuen Welt zum beiderseitigen Vorteil. Die antiken Entdeckerhelden, allen voran Odysseus, werden überboten. Der war da, hat es aber offenbar nicht verstanden oder ihm fehlte der zivilisatorische Imperativ des Christentums. Die antike Welt, oder was von ihr übrig ist, spielt ein episches Hase-und-Igel-Spiel mit Columbus: er muss der alten superstitio als Strippenzieherin hinter dem Ungeheuer den Garaus machen. Doch das gelingt ihm schließlich auch. Bei aller Euphorie und Sendungsgewissheit ist Carrara zwar kein Globalisierungsgegner ante verbum, aber er registriert die lacrimae rerum: Die Reichtümer der neuen Welt wecken Begehrlichkeiten und kitzeln das Schlimmste aus dem Menschen heraus. Und schließlich ist da, durch und durch frühneuzeitlich zugleich, die Faszination für Wissenszuwachs und technologischen Fortschritt: Schiffe, Kanonen, Navigationsinstrumente, der Lauf der Sterne – alles haben die Spanier sich zueigen gemacht und wecken damit die maßlose Begeisterung der Indigenen. Carrara formuliert eine literarisch ansprechende Summe genau dieser christlich-europäischen Zivilisationsidee. Gewiss: Kein Indio weniger wäre seiner Heimat beraubt worden, kein Hektar Regenwald weniger gerodet worden, hätte es diese Spielart der lateinischen Epik nicht gegeben – aber, im Angesicht der globalisierten Romidee eines gnadenlos weiter vorangetriebenen imperium sine fine, ist man dem Pulsschlag eines europäischen Selbstverständnisses von Bemächtigung der Welt zu allseitigem Vorteil, das die moderne globale res publica humana unauslöschlich geformt hat, in der lateinischen Literatur nirgends näher als in der Columpusepik.

Edition

  • Ubertino Carrara SJ, Columbus. Carmen epicum (1715), hg., übers. u. komm. v. Florian Schaffenrath (Bibliothek Seltener Texte 6), Berlin 2006.

Literatur

  • Heinz Hofmann, “The Discovery of America and Its Refashioning as Epic”, in Allegorica 15 (1994), 31-40.
  • Heinz Hofmann, „Von Africa über Bethlehem nach America: Das Epos in der neulateinischen Literatur‘, in: Von Göttern und Menschen erzählen. Formkonstanzen und Funktionswandel vormoderner Epik, hg. v. Jörg Rüpke, Stuttgart 2001, 130–182.
  • Gerd Johann König, Kolumbus-Epik. Die Inszenierung eines Helden in französischen und neulateinischen Texten ab 1750 (Mimesis 89), Berlin/Boston 2021

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